Newsletter 01/2020
Dr. Roland Jancke über digitale Zwillinge und warum sie klassische Ansätze zur Systemmodellierung in Sachen Effizienz und längerer Lebensdauer übertreffen.
Unter der Bezeichnung „Digital Twin“ erlangt ein neues Prinzip Bedeutung in der Entwicklung komplexer Hardware/Software-Systeme. Darunter wird allgemein ein virtuelles Abbild des realen Systems verstanden. Ein solches Systemmodell dient der Simulation des funktionalen Zusammenwirkens der Teile. Dabei werden Zeit und Kosten durch Vermeidung unnötiger Redesign-Zyklen gespart und die Auslegung des Gesamtsystems lässt sich deutlich besser optimieren.
Das Thema „Digital Twin“ ist vor einigen Jahren im Bereich der Industrieautomation aufgekommen. Im Bereich der Fahrzeugentwicklung ist es jedoch noch wenig verbreitet. Dort wird heute bereits vielfach der Ansatz der Systemmodellierung verwendet, insbesondere mit dem Ziel, das Systemverhalten zu verifizieren. Im Gegensatz dazu hat der Digitale Zwilling noch mehr Bedeutung.
Charakteristisch für den Digitalen Zwilling ist seine höhere Lebensdauer im Vergleich zu einem klassischen Systemmodell. Durch den Einsatz in mehr Abschnitten des gesamten Produktlebenszyklus kann er deutlich effizienter weiterverwendet werden. Der Einsatz des Digitalen Zwillings als virtueller Prototyp beginnt bereits in der Planungsphase der Produktentwicklung. Dort wird mit seiner Hilfe der Entwurfsraum exploriert und es werden Architekturentscheidungen vorbereitet.
Im nächsten Schritt dient der Digitale Zwilling an der Schnittstelle zur Systemimplementierung als Kommunikationsmittel. Im Sinne einer ausführbaren Spezifikation kann das entstandene Modell an interne Entwicklerteams und externe Auftragnehmer weitergegeben werden. Es dient als goldene Referenz für die Implementierungsphase und hilft mit einer klaren und eindeutigen Kommunikation, Fehler durch Missverständnisse in der Spezifikation zu vermeiden. Im Idealfall werden gleichzeitig die Tests übergeben, mit denen die Einhaltung der Spezifikationswerte überprüft wird. Somit entsteht von an Anfang an ein durchgängiges Testkonzept.
Zusätzlich lassen sich solche Digitalen Mock-up‘s auch an Kunden geben, um sie dort in einen größeren Systemzusammenhang zu integrieren. Dabei wird das IP geschützt, da das abstrakte Modell nicht die Details der tatsächlichen Implementierung enthält. Beispielsweise können Softwareentwickler den virtuellen Prototypen einer Hardware erhalten, die entweder noch in Entwicklung ist oder nicht im Detail weitergegeben werden soll. Solche aus der Systementwicklung bekannten Ansätze lassen sich mit dem Digitalen Zwilling sehr einfach umsetzen.
Schließlich geht der Anwendungsbereich des Digitalen Zwillings aber noch über die eigentliche Entwicklungsphase hinaus. Daten aus dem Betrieb des realen Zwillings im Feld können an den virtuellen Zwilling zurückgespielt werden. Damit wird die Qualität des Modells verbessert und künftige Weiterentwicklungen des Produkts profitieren im Entwicklungsprozess vom genaueren Abbild der Realität.
Einige der beschriebenen Ansätze findet man auch heute schon in der Entwicklung von Fahrzeug-Systemen. Aufgrund der vielen sicherheitskritischen Systeme im Fahrzeug sind eine Reihe von Vorgaben für den Entwicklungsprozess von Automotive-Elektronik bereits verbindlich vorgeschrieben. Der Digitale Zwilling kann helfen, die gestellten Anforderungen zu erfüllen. So ist es beispielsweise nötig, Reaktionen des Systems auf mögliche Fehler vorab zu untersuchen und zu bewerten. Ein virtueller Prototyp ist hervorragend zur Injektion und Simulation von Fehlern geeignet.
Die großen Anbieter kommerzieller Entwicklungsumgebungen für integrierte Elektronik-Systeme arbeiten intensiv an Ansätzen für das Virtuelle Prototyping. Dabei geht es häufig zunächst um die Chip-Entwicklung, wofür Emulator-Lösungen oder leistungsfähige FPGA-Plattformen angeboten werden. Der Digitale Zwilling umfasst von seinem Ansatz her jedoch größere Zusammenhänge auf System-Ebene. Es geht auch um das Zusammenwirken elektronischer Komponenten mit multiphysikalischen Effekten, wie sie zum Beispiel von mechanischen Systemteilen oder thermischen Randbedingungen herrühren.
Ein solcher komplexer Digitaler Zwilling muss in der Lage sein, Teilmodelle ganz unterschiedlichen Ursprungs zu integrieren. Dazu bedarf es einer leistungsfähigen, offenen Schnittstelle, wie sie beispielsweise von FMI (Functional Mockup Interface) bereitgestellt wird. Diese erlaubt die Integration von Modellen ganz unterschiedlicher Berechnungsprinzipien, Beschreibungssprachen und Abstraktionsebenen.
Eine der kommenden Herausforderungen wird darin bestehen, den zunächst funktional ausgerichteten Digitalen Zwilling um nichtfunktionale Eigenschaften zu erweitern. Damit lassen sich für das Gesamtsystem beispielsweise auch die Leistungsaufnahme in verschiedenen Betriebsarten optimieren sowie Sicherheit und Zuverlässigkeit untersuchen. Alleine die Vielzahl an notwendigen Test-Kilometern für die Absicherung hochkomplexer Assistenzsysteme und automatisierter Fahrfunktionen machen künftig eine virtuelle Entwicklung mit dem digitalen Zwilling unvermeidlich.